«Auch die Tradition muss sich entwickeln»

Musiques Suisses

Magazin, 5. Juli 2010, Simon Spiegel

Anlässlich des Züri Fäschts fand Anfang Juli die CD-Taufe von «Vrenelis Gärtli» statt. Das Album von Musiques Suisses, dem CD-Label des Migros-Kulturpozent, ist nach dem sehr erfolgreichen «Röseligarte» bereits die zweite Compilation, in der sich die Neue Schweizer Volksmusik in ihrer ganzen Vielfalt präsentiert.

Was ist eigentlich Volksmusik? – Die Antwort auf diese Frage scheint einfach, doch Fabian Müller lacht erst einmal verzweifelt, als er sie beantworten soll. Dabei scheint gerade er dazu prädestiniert, Volksmusik zu definieren. Schliesslich bildet Müller gemeinsam mit Andreas Gabriel den Kern der Helvetic Fiddlers, eines Streicherquartetts, das darum bemüht ist, die fast vergessene Geigen-Tradition in der Schweizer Volksmusik zu wiederbeleben. Denn noch im 19. Jahrhundert war die Geige in ländlichen Gegenden das mit Abstand beliebteste Instrument. Erst im 20. Jahrhundert wurde sie durch die Handorgel verdrängt.

Madlaina Janett, Violinistin bei den Unterengadiner Ils Fränzlis da Tschlin, hat ebenfalls Mühe mit dem Begriff ‹Volksmusik›: «Ich finde das sehr schwierig, denn Pop ist eigentlich auch Volksmusik. Unsere Musik wird dagegen oft gar nicht als Volksmusik wahrgenommen». Ihre Musik stamme zwar aus dem Engadin und der Name ihres Quintetts spielt auf eine legendäre Musikerdynastie des frühen 19. Jahrhunderts an, viele musikalische Elemente seien aber ursprünglich aus dem Ausland importiert worden. Das sei schon immer so gewesen, meint ihr Mitmusiker Men Steiner. Auch die «Original-Fränzlis» kamen von ausserhalb: «Das waren Fahrende, die sich im Engadin niedergelassen haben und ihre eigene Volksmusik mitbrachten.»

Ein breit gefächertes Publikum

Dass Volksmusik vielseitig ist und sich nicht leicht fassen lässt, ist ein Anliegen von Musiques Suisses, dem CD-Label des Migros-Kulturprozent. Vergangenes Jahr veröffentlichte Musiques Suisses mit der CD «Röseligarte» eine erste Compilation mit Neuer Schweizer Volksmusik – der Erfolg war enorm: Über 10’000 Exemplare wurden verkauft. «Röseligarte» bewies eindrücklich, dass Volksmusik keineswegs verstaubt ist und dass es für diese Musik zudem ein grosses Publikum gibt. Im Rahmen des Züri Fäschts fand nun die feierliche CD-Taufe des Nachfolgers statt: «Vrenelis Gärtli» vereinigt 18 höchst unterschiedliche, musikalisch aber stets virtuose Musikstücke, die alle irgendwie zur Schweizer Volksmusik gehören, dabei aber in ganz unterschiedliche Richtungen gehen.

Eine Ahnung davon, wie breit das Spektrum ist, vermittelte das Konzert auf dem Bürklipatz, das der Taufe vorausging. Während die Helvetic Fiddlers und die Fränzlis vergessene Musikstile wiederbeleben und neu interpretieren, beschreitet das Marcel Oetiker Trio einen anderen Weg: Frontmann Marcel Oetiker entlockt dem Schwyzerörgeli – für viele zweifellos das Schweizer Volksmusik-Instrument schlechthin – unerwartet jazzige Klänge. Er habe gar nicht den Anspruch, Volksmusik zu machen, meint Oetiker. «Ich komme schon von der Tradition her, habe aber Jazz studiert. Im Trio hat jeder einen anderen stilistischen Hintergrund, und das prallt dann aufeinander.»

Reger Austausch

Die Musiker, die auf «Vrenelis Gärtli» vereinigt sind, sind allesamt Profis; die romantische Vorstellung, dass Volksmusik des Abends von der Bauernfamilie zum Zeitvertreib gespielt wird, ist längst überholt. «Allerdings war das eigentlich während des ganzen 20. Jahrhunderts so», erklärt Gabriel Müller. «Es gab immer einen Austausch zwischen Stadt und Land. Der Ländler wurde beispielsweise in Beizen im Zürcher Niederdorf erfunden.»

Das eindrücklichste Beispiel für die Vielseitigkeit der Neuen Volksmusik ist wohl Arkady Shilkloper: Der gebürtige Russe gilt heute als einer der virtuosesten Alphornspieler überhaupt. Wie Marcel Oetiker bedient auch er sich eines typischen Schweizer Instrumentes, um seine ganz eigene Musik zu machen. Er übernehme zwar traditionelle Elemente, wolle aber keineswegs die bestehende Volksmusik kopieren: «Ich bin nun einmal nicht Schweizer, meine Wurzeln liegen woanders.»

Musik, die sich verändert

Wenn es etwas gibt, was die Musiker auf «Vrenelis Gärtli» vereint, dann die Überzeugung, dass es die einzige und echte Volksmusik nicht gibt. In Men Steiners Augen kann man Volksmusik denn auch am ehesten über ihre Wandelbarkeit definieren: «Das ist Musik, die von Generation zu Generation weitergegeben wird und sich dabei verändert. Es ist Musik, die nicht festgeschrieben ist.» Arkady Shilklopper sieht das ganz ähnlich: «Auch die Tradition muss sich entwickeln, Wenn sich die Tadition nicht entwickelt, stirbt sie.»

«Vrenelis Gärtli» ist direkt bei Musiques Suisses oder in den Migros-Filialen in Zürich, Luzern und Basel zum Preis von 5.– erhältlich.